Predigt über „Freunde, dass der Mandelzweig“

Friedrich Rosenthal wird 1913 in München geboren.
Ostern sucht er bunte Eier im Garten.
Weihnachten riecht es nach Lebkuchen und Marzipan.
Friedrich Rosenthal macht in München sein Abitur, eine Lehre und studiert.

Er wird verhaftet. Immer wieder verhaftet. Zusammengeschlagen. Verfolgt.
Er flieht. 1935 flieht er nach Israel, das es damals noch gar nicht gab.
Flieht nach Palästina. In eine Idee, die seinen Verfolgern, den Nazis ein Dorn im Auge war: Ein jüdischer Staat.
Ein Staat für das Volk, das die Nazis auszurotten gedachten. Und taten: Besessen von der Auslöschung, vom Töten.
Fast. Fast wäre ihnen das gänzlich gelungen.
Zum Glück nicht. Gott sei Dank nicht.

Friedrich Rosenthal heißt da schon lange nicht mehr Friedrich Rosenthal.
Er heißt „Frieden, Sohn der Freiheit“ – Schalom Ben-Chorin.
Den Frieden trägt er im Namen. Und fragt selbst:
„Muss man nicht ein bisschen verrückt sein, um die Hoffnung nicht aufzugeben in dieser Welt?“

Er zweifelt. Natürlich zweifelt er. Wie so viele Juden.
Ob Gott sein Volk fallen lassen hat? Ob Gott Israel nicht mehr die Treue hält?
„Können wir nach Auschwitz noch glauben? Können wir Gott vergeben, dass er dem entmenschten Menschen nicht gewehrt hat?“, fragt er.
Die Grausamkeit, die seine jüdischen Geschwister erfahren, lässt nur ein „Ja“ auf diese Fragen zu.

Aber Schalom Ben-Chorin ist ein bisschen verrückt.
Er gibt die Hoffnung nicht auf.
Seine Hoffnung auf Gott.
In dieser Welt.
Wie? Eine Antwort findet er im Hohelied der Liebe des Juden und späteren Christen Paulus, im Neuen Testament:
„Die Liebe hofft alles, sie duldet alles. … Die Liebe hört niemals auf.“
Die Liebe hört niemals auf.
Der Hass darf nicht weitergegeben werden von Generation zu Generation.

Schalom Ben-Chorin ist Journalist, Religionswissenschaftler, Schriftsteller. Und Dichter.
Noch im Zweiten Weltkrieg dichtet er:
„Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?“

Den Mandelzweig sieht er wirklich blühen.
Den Mandelbaum kann er aus seinem Arbeitszimmer sehen.
Es ist Krieg. Es ist eine furchtbare Zeit und Schalom Ben-Chorin sieht nach draußen und sieht, wie die Mandelblüten blühen.
Auch in schrecklichen Zeiten, auch im Krieg, schickt der Frühling seine Vorboten.
Zartrosa und weiß kündigen die Blüten der Mandelbäume den Frühling an.
Sie sind ein Zeichen dafür, dass Hoffnung besteht, dass das Schlimme einmal vorbeigeht und dass es besser wird.

Schalom Ben-Chorin hat die Hoffnung auf Frieden nie aufgegeben, auch nicht für Israel und Palästina – Er ist eben ein bisschen verrückt.
Daran denken wir heute und sehen zugleich den sanften Fingerzeig des Friedens, wenn zwischen Israel und den Arabischen Emiraten diplomatisches Miteinander zaghaft erblüht.

„Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?“
Diese Zeilen greift Ben-Chorin nicht aus der Luft.
Sie stammen aus einer Stelle beim Propheten Jeremia, wo es heißt:
„Das Wort des Herrn erging an mich: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig. Da sprach der Herr zu mir: Du hast richtig gesehen; denn ich wache über mein Wort und führe es aus.“ (Jer 1,11f)
Im hebräischen Text steckt darin ein Wortspiel:
„Mandelzweig“ und „wachen“ klingen auf Hebräisch fast gleich.
Der Mandelzweig ist der Fingerzeig, dass Gott über seine Welt wacht.
Auch dann, wenn wir das fast schon gar nicht mehr wahrnehmen können.
Diese Hoffnung gibt Schalom Ben-Chorin nicht auf, auch im Krieg nicht.
Seine Hoffnung trotzt Verfolgung, Verhaftung, Töten, Auslöschen.

Wie der Mandelbaum hinter seinem Haus.
Irgendwann, der Krieg ist längst vorüber, Israel ein unabhängiger Staat und Ben-Chorin setzt sich für den jüdisch-christlichen Dialog ein, da bekommt er Besuch aus Deutschland, von einem Liedermacher, der seine Zeilen vertont hat.
Sein Besucher fragt nach dem Mandelbaum. Und Ben-Chorin erzählt:
Der Baum ist gefällt. Platten in den Hof gelegt.
Aber eines Tages brechen die Wurzeln des Baumes durch die Platten.
Der Mandelbaum findet seinen Weg.
Oder, wie Ben-Chorin sagt:
„Die Hoffnung ist nicht totzukriegen.“

Das lehrt uns Schalom Ben-Chorin, ein Jude.
Das hören wir heute, am Israelsonntag.

Im Evangelium hören wir vom Juden Jesus.
Jesu Antwort auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot.
Aus 613 Vorschriften, 248 Geboten und 365 Verboten, wählt Jesus als Antwort diese beiden:
„Das wichtigste Gebot ist dieses: ‚Höre, Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Willen und mit deiner ganzen Kraft.‘
Das zweite ist: ‚Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.‘
Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.“ (Markus 12,29-31)

Gott lieben und meinen Nächsten, das ist das wichtigste.
Das wichtigste Gebot ist nicht nur eins, sondern zwei, eigentlich sogar drei: Gott lieben. Meinen Mitmenschen lieben, wie ich mich selbst liebe.

Dieser Jude, Jesus, ist unser Weg zu Gott.
Über Jesus schreibt Ben-Chorin:
„Jesus ist für mich der ewige Bruder, nicht nur der Menschenbruder, sondern mein jüdischer Bruder.“
Von ihm hat er die Hoffnung, dass das Leben stärker ist als alles Böse.

Und deshalb spricht Ben-Chorin uns an: „Freunde“
Er will unsere Augen und unsere Herzen öffnen.
Er will uns zeigen, dass das Leben stärker ist als alle Todesmächte.
Diese Sehnsucht teilen die Menschen. Ob Christen, ob Juden.
Sie kann uns verbinden.
Sie kann uns zu Gott führen, durch alle Kulturen und Religionen.

Diese Hoffnung ist nicht totzukriegen.

„Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.“

Amen.

Pastor Groeneveld